Ich wollte kein König sein: 20 merkwürdige Vorfälle

Werkzeuge ihrer Gefühle

Erst sagte die Lore zu mir, ich solle die Lili auffordern, den Hans zu erhängen, was ich dann auch tat. Lili und Hans waren im andern Zimmer, Lore und ich daneben. Die Tür stand offen. Nun warteten wir beide eine lange Zeit darauf, dass die Lili den Hans endlich erhängen würde, doch die beiden redeten offenbar immer noch. Ich verstand das nicht, sie hätte ihn längst erhängen sollen, worauf wartete sie bloß, wieso kam immer noch Lachen aus dem Nebenzimmer. Ich lauschte dem Lachen, ebenso Lore. Als nichts geschah, schaute ich durch die Tür. Jetzt war das Lachen verstummt, denn Hans baumelte nun tatsächlich an einem Strick an einem Haken an der Decke. Lili verließ den Raum wie ein Handwerker nach getaner Arbeit. Lore begann auf einmal zu schreien und wild herumzufuchteln. Sie schlug mit Tränen in den Augen wie besinnungslos auf mich ein. Ich verstand sie erst gar nicht. Hatte sie der Anblick des hängenden Hans so überwältigt? War sie darauf nicht vorbereitet gewesen? Dabei hatte Lore doch selbst zu mir gesagt, ich solle der Lili den Auftrag erteilen, den Hans aufzuhängen. Zuletzt fühlte ich mit ihr. Frauen sind Werkzeuge ihrer Gefühle.

Nie mehr aufwachen

Protze sah mich an. Protze schaute weg. Protze schaute zum Fenster. Das Fenster ignorierte Protze. Protze schaute zur Tür. Die Tür schaute weg. Protze schaute auf den Tisch. Der Tisch schaute nicht zurück. Protze drehte sich dem Bett zu und sagte: die erstaunlichste Tatsache im Leben der Menschen ist die Tatsache, dass sie jeden morgen aufwachen. Tiere wachen auf, wenn sie Hunger haben, sonst schlafen sie. Menschen haben die Natur umgedreht. Sie stellen sich einen Wecker, egal ob sie Hunger haben oder nicht. Protze drehte sich zu mir. Er hob die Augen und sagte: Menschen nutzen ihre Zeit effizient, Arbeiten, Fernsehen, egal. Menschen fragen sich, warum sie überhaupt schlafen müssen. Wäre es nicht möglich, ganz ohne Schlaf auszukommen? Das Militär hat solche Experimente durchgeführt, Soldaten sollen nie schlafen. Protze verstummte. Er stand auf, er legte sich aufs Bett und war weg. Mein Verdacht, er wäre eingeschlafen, stellte sich als Irrtum heraus. Als Protze nach zehn Stunden immer noch in derselben Haltung dalag und auf nichts reagierte, beschloss ich, dass er nie mehr aufwachte.

Ein einfacher Gruß hätte genügt

Jeden Tag, an dem die Sonne schien, saß Toto, als ich vorbeikam, in dem Straßencafé. Jeden Tag, an dem die Sonne schien, setzte ich mich zu ihm, um mal eben eine Zigarette mit ihm zu rauchen. Nie schmeckte mir die Zigarette. Immer war es warm, der Hals trocken, die Zunge belegt, mich dürstete, ich hatte kein Wasser. Und überhaupt war ich ja nur ein paar Schritte von meiner Wohnung entfernt. Nur fühlte ich mich verpflichtet, Toto wenigstens kurz Guten Tag zu sagen, wenn ich schon hier vorbeikam, mehr als nur ein flüchtiges Hallo. Aber mich einfach hinzusetzen, ohne Zigarette, das ging schlecht. Die Zigarette verband uns, sie bestimmte die Zeit, die ich dort verweilen würde. Ich blieb nie länger, als bis die Zigarette gedreht, geraucht und getötet war. Diese Zigarette war mir unverzichtbar geworden, ich hatte etwas zu tun, etwas in der Hand, der Qualm stand zwischen Toto und mir und erzwang Ungezwungenheit, genauer: ich fühlte mich nicht zum Reden gezwungen, wenn ich rauchte. Denn fühlte ich mich zu irgend etwas, ganz gleich was es war, gezwungen, würde man etwa von mir erwarten, etwas zu sagen, würde mir kein einziger Satz einfallen. So rauchte ich jeden Tag, an dem die Sonne schien, eine Zigarette mit ihm, während ich auf die Passanten schielte. Mit Toto, der Milchkaffee trank, aber nicht rauchte, wechselte ich selten mehr als wenige Worte – Ansichten über aktuelle Kinofilme, nichts Bewegendes. Mit jedem Zug ekelte mich die Zigarette mehr an. Das alles nahm ich nur in Kauf, weil ich mich nicht traute, mit einem einfachen Gruß vorbeizugehen. Ein einfacher Gruß hätte genügt.

Bereiche einer Wohnung

Ich ging manchmal in ein Café, das eigentlich gar kein Café war. Es war ein kleiner Laden und Spätverkauf, in dem es Tabak, Getränke und Gebäck gab. In der Mitte des Ladens stand ein runder Metalltisch. An diesem Tisch saß immer ein hagerer Mann. Sein graues Haar trug er lang und zu einem Zopf gebunden. Er trug eine Brille, die Ähnlichkeit mit der von John Lennon hatte. Die Gläser hatten eine dunkle Tönung. Der Mann war lichtempfindlich. Seine Gesichtsfarbe war grau, seine Hände zart. Er drückte seine Kippe in den Ascher und machte sich eine neue an. Nie sah ich ihn ohne Kippe. Irgendwann setzte ich mich an den Metalltisch. Vor ihm stand eine Kaffeetasse, die aber immer leer war. Nie habe ich je einen Schluck Kaffee in dieser Tasse gesehen, nie den Mann trinken. Aber die leere Kaffeetasse stand immer vor ihm, nur eine Restpfütze am Boden. Er war immer in ein Buch vertieft, er hatte immer mehrere Bücher vor sich auf den Metalltisch gestapelt. Es waren historische Bücher, über die Geschichte eines bestimmten Bahnhofs oder über einen ehemaligen Großunternehmer. Er war auf der Flucht vor Gläubigern und Zwangsvollstreckern, wie er mir sagte, die den ehemaligen Kinobesitzer seit 30 Jahren jagten. Er lebte von der Stütze. Er besaß kein Telefon, kein Bankkonto und keine Postadresse. Seinen Namen hatte er von Andreas in André abgeändert, weil, wie er beschwor, zur Zeit seiner Geburt, nur noch niemand den Mut gehabt hätte, sein Kind André zu nennen und Eltern ihre Kinder stattdessen den Unnamen Andreas gaben. Eigentlich, dessen war André sicher, hätte er schon immer André heißen sollen. Irgendwann fragte ich André, was er denn in der nächsten Zeit so vorhabe. Er sagte: „Tiefgründige Erforschung der Bereiche meiner Wohnung, in denen ich schon lange nicht mehr war.“ Ich lachte und wusste nichts zu sagen. Ich schaute ihn an. Was soll man auch auf tiefgründige Erforschung der Bereiche meiner Wohnung, in denen ich schon lange nicht mehr war, sagen.

 Wer will schon alt sein und nicht stinken

An einem kalten Tag im Winter, trost- und wunschlos in meinem Bette vor mich hindenkend, entschied ich mich, das Haus zu verlassen, übrigens ein Haus, welches sich durch bürgerliche Rechtschaffenheit, freundliche Bewohner, saubere Treppenteppiche, geleerte Briefkästen, geringen Lärmpegel, aufgeräumte Gemeinschaftskeller und eine stets geschlossene Haustür auszeichnet. Ich zog mir etwas über, schloss die Tür hinter mir und stieg die Treppen hinab. Im Hausflur begegnete ich einer älteren Dame, die ich vom Sehen her kannte, und grüßte, wie es meine Art war, freundlich. Offenbar war mein Gruß nicht laut genug um ihr Gehör zu erreichen, denn die Dame – ich kenne ihren Namen nicht – erwiderte den Gruß nicht nur nicht, sondern sie schaute knorrig auf mich herab – ich war bereits eine halbe Treppe unter ihr – so als ärgere sie sich fürchterlich über meine Unfreundlichkeit. Aber das alles ist ja nicht der Rede wert. Was mich aber im Nachhinein wirklich verwunderte, war die Tatsache, dass ich den Geruch der Alten gar nicht wahrgenommen hatte. In der Regel stinken alte Menschen nach Tod und Verwesung – leicht süßlich und darin eine Note aus Ammoniak, Schwefel, Buttersäure und ausgedünsteter Schlacke. Bei der Alten nichts davon. Wer will schon alt sein und nicht stinken.

Wer will schon ein Hund sein

Ich erwachte, als die Sonne im Zenit stand. Wie ein scharfes Messer drang Helligkeit in mich ein. Die Welt hatte mich blind ausgespuckt und im Dreck liegen lassen. Ich kratzte mir Grind aus den Augen. Ich konnte nicht ablassen, bis die Augenhöhlen brannten. Ein Auge blieb trotz aller Bemühungen verschlossen, das andere verkrustet und verklebt, immerhin sah ich Asphalt und Scherben. Ich lag an einer Wand, den Kopf in der Scherbe einer Flasche, die ein Betrunkener in der Nacht zerschmissen hatte. Neben mir trocknete eine gelbe schaumige Lache. Sie roch süßsäuerlich, enthielt aber keine Essensreste. Mein Schädel schmerzte so, dass ich mir vorstellte, wie es wäre, wenn er auf der Stelle abfiele. Das fühlte sich wie eine Erleichterung an. Irgend jemand müsste dann allerdings die verdorrten Reste vom Gehweg kratzen. Das war der Nachteil an der Geschichte. Der Gedanke an jene Person, die übel riechende Körperreste von Gehwegen zu schrubben hatte, verdarb mir die ganze Geschichte. Mit erster Kraft sammelte ich die auseinander driftenden Bilder zusammen. Nun geschah etwas, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich konnte genau erkennen, was sich auf der anderen Straßenseite abspielte. Die Sonne hatte ihre Strahlen wie ein Spotlight auf die Szene geworfen: ein aufrecht gehender Hund führte das auf allen Vieren kriechende Herrchen an der Leine. Übrigens war alles von erschreckender Klarheit. Mich überkam Schwindel. Der Hund war jenen kurzhaarigen dürren Rassehunden zuzuordnen, bei denen man immerzu fürchtet, sie werden auf der Stelle zusammenbrechen, und das wenn sie auf allen Vieren gingen. Dieser hier aber marschierte aufrecht und mit festem Schritt und er führte den älteren Herrn neben sich her an kurzer Leine. Der Hund bellte durchweg auf den Mann ein, der Mann schien dem Gebell kein Gehör zu schenken, so dass der aufrechte Hund immer wütender wurde und immer aggressiver auf den kriechenden Mann einbellte. Der Mann blickte ängstlich und beschämt zu seinem Hund hinauf, ohne dessen Befehle – worin diese auch immer bestanden – zu befolgen, ohne diese überhaupt zu verstehen, wie mir schien. Der arme Herr verstand den bellenden Hund naturgemäß nicht, das erkannte jeder Blinde, ich war jetzt ganz aufgebracht. Warum half dem Mann niemand? Die Passanten gingen vorüber, als wäre nichts, als wäre das die normalste Sache der Welt. In Anteilnahme wollte ich dem Mann zu Hilfe eilen, ich wollte den Mann vor seinem Hund retten, ich wollte über die Straße, doch ich konnte nur kriechen. Ich kroch dem Mann entgegen, wie ein Hund, auf allen Vieren, und als mich der Mann sah bellte er mich an, da ich offenbar in sein Revier eingedrungen und seinem Hundchen zu nahe gekommen war. Der Hund versuchte jetzt den Mann zu beruhigen, auch wenn er damit wenig Erfolg hatte. Vor Aufregung erbrach ich etwas von dem gelben Sud, beherrsche mich aber, es den Hunden gleichzutun und das Erbrochene wieder aufzuschlecken. Und dann sputete ich mich aufzustehen, in eine aufrechte Position zu gelangen, denn ich fürchtete plötzlich, man könnte mich für einen kranken streunenden Hund halten. Und wer will schon Hund sein. Allein, es gelang mir nicht.

Fremde

Er saß mir gegenüber, als wären wir Fremde. Mein Bruder. Ja, so war er. Und so war ich. Er stand auf und machte sich ein Bier auf. Ich unterließ es, etwas zu sagen. Trank ich doch in der letzten Zeit selbst genug. Gewöhnlich ließ ich an solchen Stellen schon mal eine Bemerkung fallen, etwa dass mir sein Alkoholkonsum bedenklich erscheine. Jetzt sagte ich nur, es sei ja schon dunkel. Zeit, sich ein Bier aufzumachen. Wir hatten uns nichts zu sagen.

In neuem Licht

Ich hatte einen Traum, sagte Agio beim Frühstück zu seiner Frau. Die beiden waren seit 42 Jahren verheiratet und in diesen 42 Jahren war Frau Agio nicht bekannt geworden, dass ihr Mann musikalisches Talent besäße. Nach dem Frühstück begann Agio seinen Traum aufzuschreiben, er hatte nämlich von Musik und von Noten geträumt und war nun bis zum Abendessen damit beschäftigt, die Noten auf mehrere Bogen Papier niederzuschreiben. Frau Agio zeigte sich zwar beeindruckt und wollte wissen, woher er das plötzliche Talent besäße, Noten zu kennen, doch sie wirkte dabei etwas spöttisch, so ganz geheuer war ihr die Sache nicht. Er könne sich das auch nicht erklären, sagte Agio, die Musik sei ihm im Traum erschienen. Mehr wisse er auch nicht. Wenige Tage später war Agio tot. Der Schlag hatte ihn getroffen.

Seit der Trauerfeier, wo man Agios Lieblingslied gespielt hatte, den Erlkönig von Schubert, waren noch keine vier Wochen vergangen. Ganz in schwarz begab sich Frau Agio zu einem Klavierlehrer, der in der selben Straße wohnte. An der Klingel stand der Name Johann Sebastian Schönmann, Lehrer für Klavier und Tasteninstrumente. Das flößte Frau Agio großes Vertrauen ein, so dass sie dem jungen Mann zutraute, die Noten aus Agios Traum spielen zu können. Schönmann, der angesichts der außergewöhnlichen Anfrage etwas verwirrt schien, willigte dennoch ein, das könne er tun, das sei kein Problem, das tue er schließlich jeden Tag, nach Noten auf dem Klavier zu spielen, wenn auch zumeist das Wohltemperierte Klavier.

Frau Agio nahm auf dem eilig hingerückten Stuhl Platz, Schönmann legte die Blätter in den Notenhalter ein und begann vorsichtig, die ersten Akkorde zu spielen. Nun merkte Schönmann bald, dass es sich hierbei nicht um die Musik eines Genies handelte, nicht einmal um die Experimente eines talentierten Musikers: weder gab es Harmonien noch moderne Dissonanzen, das Notenbild war weder melodiös noch marschierend, es handelte sich offenbar um laienhaft zusammengestellte Noten, die kein einheitliches Bild, ja, keinen musikalischen Sinn ergaben.

Um Frau Agio nicht allzu sehr zu enttäuschen, begann Schönmann zu improvisieren und löste sich immer mehr von den Noten ab und spielte irgendwann gänzlich frei. Melodisches wechselte mit Disharmonischem, ruhige Momente wechselten mit schnellen, leise mit lauten, für den ungeschulten Hörer musste das durchaus wie ein reifes Musikstück eines modernen Künstlers wirken und Frau Agio beobachtete den Klavierlehrer mit zunehmendem Staunen und, ja, sie lauschte mit Begeisterung dem Spiel, von dem sie dachte, es sei ihrem Mann im Traum erschienen. Sollte das wirklich ihr Mann erfunden haben, ein Mensch, der Zeit seines Lebens nie etwas von Musik verstanden hatte?

Mit den Noten freilich hatte das Spiel längst nichts mehr zu tun. Die Blätter blätterte Schönmann nur noch um, um den Schein zu wahren, er war wahrlich ein Meister der freien Improvisation. Als der letzte Ton verklungen war, ein tiefer rauer Basston, applaudierte Frau Agio ganz wild und bedankte sich überschwänglich für die ergreifende Darbietung und Schönmann vergaß nicht, den Dank brav zurückzugeben, schließlich sei nicht er der Komponist gewesen, sondern ihr verstorbener Mann, und er hätte sozusagen nur als dessen Werkzeug gewirkt und den Traum des Agio in Musik verwandelt.

So leicht und beschwingt hatte sich Frau Agio nun seit Jahren nicht gefühlt, wie auf dem Heimweg von dem Klavierlehrer und mit Stolz dachte sie an ihren Mann, der ihr nun in ganz neuem Licht erschien.

Die üble Sache

Man sagte mir, meine Mutter sei gestorben. Das sei bedauerlich, sagte ich oder wollte es zumindest sagen. Ein Mann legte einen Arm um mich. Mir war diese Nähe in Verbindung mit der Nachricht unangenehm um nicht zu sagen zuwider. Ich nahm den Arm grob von meiner Schulter und schrie den Mann an, allein der Umstand, mir eine solche Todesnachricht zu überbringen, berechtige noch lange nicht zu einer derartigen Vertrautheit. Der Mann fasste sich schneller, als ich es erwartet hätte. Er schüttelte vielleicht den Kopf, vielleicht auch nicht. Er fragte, ob ich nicht wissen wolle, unter welchen Umständen meine Mutter gestorben sei. Nein sagte ich, die Umstände könne ich mir sehr gut vorstellen, es waren seit Jahren die selben. Die üble Sache. Nach dieser Nachricht fand ich noch weitere Briefe der Mutter in meinem Briefkasten, in denen sie von der üblen Sache sprach. Erst vermutete ich, die Briefe seien noch auf dem Postweg gewesen und kämen nur verspätet an. Doch als sich vier Wochen nach der Nachricht immer noch Briefe in meinem Briefkasten fanden, ging mir auf, dass ein anderer sie abschicken musste, wenn meine Mutter wirklich tot war. Oder aber meine Mutter war nicht tot und sie selbst schickte die Briefe. Kurz darauf erfuhr ich zum zweiten Mal von ihrem Tod. Man sagte mir, meine Mutter sei gestorben und ich begriff, dass mich mein Glaube an die erste Nachricht der letzten Chance beraubt hatte, sie noch einmal lebend zu sehen. Es war ihr Mittel gewesen, mir zu sagen, dass die üble Sache siegen wird und dass, wollte ich sie noch einmal sehen, nicht mehr viel Zeit bliebe. Wie dumm aber war ich gewesen.

Der Depressive

Einmal traf ich einen Depressiven. Er sagte, ihm gehe es so miserabel, das Leben sei kaum zu ertragen. Ich sagte, warum „kaum“, das Leben scheint für dich unerträglich zu sein, also warum beendest du das Spiel nicht auf der Stelle? Er sagte, ach ja, wenn es so einfach wäre. Da gibt es ja noch die Momente, wo alles ganz anders ist, Momente, die, wenn nicht gerade als schön, so doch als erträglich zu bewerten wären. Ich sagte: hier haben wir des Übels Wurzel, du wertest die Momente des Lebens, statt sie zu lieben. Ein Moment ist wie er ist, er verdient es nicht, bewertet zu werden, er will geliebt sein, wie jedes Wesen auf dieser Welt. Ist ein Moment etwa ein Wesen? sagte der Depressive. Ich erwiderte: Ist es nicht ein Wunder, dass es diesen Moment überhaupt gibt, ich meine diesen göttlichen Moment gerade hier zwischen uns. Wir unterhalten uns, wir verstehen einander. Wie könnte man diesem Moment anders begegnen als mit grenzenloser Liebe. So betrachtet, kann ich dir kaum widersprechen, sagte der Depressive. Warum „kaum“?, sagte ich. Der Moment erscheint dir liebenswert, warum also willst du widersprechen? Will ich ja gar nicht, sagte der Depressive. Aber stell dir mal vor, diesen Moment gäbe es nicht, du wärst nicht hier und wir würden nicht miteinander sprechen, es gäbe nur dich allein und mich allein. Dann würdest du genau das lieben, was du gerade tun würdest, sagte ich. Und wenn dieser andere Moment nun nichts Liebenswertes hätte? sagte der Depressive. Ist nicht jeder Moment liebenswert, sagte ich, der eine mehr, der andere weniger? Jetzt aber wertest du, sagte da der Depressive.

Russisch Roulette

Die zwei Russen nahmen uns an einer Tankstelle mit. Sie waren sich nicht einig, ob es eine gute Idee sei, mich und meine Freundin mitzunehmen, sie diskutierten kurz darüber. Ich konnte kein Russisch, doch mir schien sofort etwas faul. Die Russen waren mehr als gut beschwipst, sie lachten und grölten, wohlgemerkt erst, als wir auf der Autobahn waren. Plötzlich sah ich, wie einer von ihnen eine Wodka-Flasche in der Hand hielt, zum Glück der Beifahrer, dachte ich erst. Doch als er die Flasche dem Fahrer reichte, war es mit mir aus. Ich dachte, ich bin im Traum. Uns wurde klar, hier stand nicht weniger als unser Leben auf dem Spiel, das offenbar Russisch Roulette hieß. Wir versuchten ihnen begreiflich zu machen, dass wir aussteigen wollten. Doch entweder verstanden sie unsere Sprache nicht oder es war ihnen egal. Für sie ging der Spaß jetzt erst los. Wir fuhren auf der viel befahrenen Autobahn Schlängellinien über drei Spuren, fuhren dicht auf, bremsten ruckartig ab, schwenken zur Seite aus und schlitterten haarscharf an den links und rechts hupenden Wagen vorbei, so wie man es von der Subjektiven schlimmer Action-Filme kennt. Es war die längste halbe Stunde meines Lebens, es gibt dafür nur ein Wort: Horror. Die Russen lachten immerzu und amüsierten sich prächtig, wenn jemand besonders aggressiv hupte oder Lichthupe gab. Ich wusste, ich sterbe. Als ich schon längst nicht mehr an ein Happyend glaubte, mit dem Leben abgeschlossen hatte und infolgedessen nur noch apathisch auf meine zitternden Knie starrte, nahmen sie die nächste Ausfahrt. Warum, das weiß ich nicht.

Warten

Ich warte jeden Tag nur darauf, dass der Tag vorüber geht, sagte er, dass es endlich dunkel wird, ich warte nur darauf, dass das Leben endlich vorüber geht, auf nichts anderes ist mein gesamtes Denken und Handeln ausgerichtet. Dann schwieg er, für den Rest seines Lebens. Er lebte noch lange.

Suchen

Die Straßen waren menschenleer. Ich war auf der Suche, ich folgte den Bordsteinkanten. Ich lief an der linken entlang. Links waren sie einen Spalt höher. Das sah man aber nur, wenn man genau hinschaute. Ich lief auf der Straße, in der flachen Senke am Rand. Die Pflastersteine waren grau, grau und feucht vom Regen. In einigen Vertiefungen hatten sich kleine Pfützen gesammelt, in denen sich die Häuserfassade spiegelte. In der Seitenrinne hatten sich kleine Seen gestaut. Kein Mensch war zu sehen. Aus den Bars hörte man Stimmen. Es waren die einzigen Fenster, in denen Licht brannte. Die anderen Fenster waren dunkel und dicht verschlossen. Ich ging in einen der Eingänge auf der rechten Seite. Es war eine sehr große Tür, fast ein Tor, mit zwei stählernen Doppeltüren. Ich drückte die Klinke herunter, trat ein und stand in einem dunklen Korridor. Nach hinten war er offen, man konnte eine Laterne sehen, die eine Mülltonne auf einer Wiese anstrahlte. Links lehnte ein klappriges Rad, gesichert mit zwei rustikalen Stahlschlössern. An der rechten Wand gab es zwei Briefkästen. Daneben war eine hölzerne Schwenktür, zu der vier flache ausgetretene Stufen führten. Ich ging die Stufen hinauf, tippte gegen die Schwenktür und ging hinein, während die Tür noch einige Male klappte, leise und fast ohne ein Geräusch. Ich ging die Treppe hinauf und stand vor einer großen Holztür. Ich klopfte mit der Hand an die Tür und wartete. Ein alter Mann, der eine Pyjamahose trug, öffnete. Er fragte, was ich wolle. Ich sagte, dass ich auf der Suche sei. Er bat mich herein und servierte gelben Tee. Er sagte in etwa folgendes: Wir bestehen, solange unsere Illusionen bestehen. Stürben sie, würden wir auf der Stelle verschwinden. Zerstören wir unseren Glauben, zerstören wir die Grundlage unserer Existenz. Denn unsere Existenz ist eine Lüge, ein Glaubensakt. Ohne diese religiöse Grundlage könnten wir nicht existieren. Atmen heißt lügen. Dann hielt ich den Atem an.

Als das Haus erbaut wurde

Nach dem Abendessen ging ich in den Spätverkauf, um mir ein kühles Bier zu holen. Der mir gut bekannte Algerier hinter dem Tresen, ein junger Mann, der bekanntermaßen harte Zeiten hinter sich hatte und um dessen Familie es in der Heimat nicht sonderlich gut bestellt war, grüßte in seiner Art mit erhobener Hand, die er hierfür von einem Glas Gewürzgurken nehmen musste, welches er gerade in den Händen hielt. Er suchte auf dem Glas, wie ich bald erfuhr, nach einem Haltbarkeitsdatum, da ein nervös vor den Regalen herumspringender Kunde sich sorgte, ob eventuell vielleicht das Mindesthaltbarkeitsdatum schon abgelaufen sei, zumindest hatte dieser Kunde keinen entsprechenden Aufdruck auf dem Gurkenglas finden können. Dieser biedere, vom Wohlstand aufgedunsene Deutsche, fragte nun den dürren, von Hunger, Kummer und Sorgen sichtbar zerfressenen Algerier, wie lange ein solches Gurkenglas, das zudem noch mit einer Schicht Staub bedeckt war, wie lange also dieses Glas Gewürzgurken denn schon in dem Regal stünde. Und ohne die kleinste Miene zu verziehen, antwortete der Algerier, das könne er nicht sagen, da das Glas vermutlich schon dort gestanden habe, als das Haus erbaut worden sei.

Ich, gerade das Bier aus dem Kühlschrank nehmend, brach angesichts dieser Worte in das heiterste Lachen aus und dachte darüber nach, ob er diesen Scherz ausschließlich für mich, sein einziges Publikum gemacht hatte, denn der fettleibige Deutsche konnte darüber keineswegs lachen. Dennoch bezahlte der Deutsche dann brav das Glas Gewürzgurken, wie ich beim Verlassen des Ladens registrierte. Meine Überlegungen auf dem Heimweg waren psychologischer Natur: wie nur war es möglich, dass gerade die unmöglichste aller Auskünfte zum Verkauf des Gurkenglases führte?

Das kann ich tun

In der Straßenbahn sprach mich eine Frau an, ob ich ihr einen Geldschein in Münzen wechseln könne, für einen Fahrschein. Ich konnte ihr nicht helfen. Kurz darauf sah ich, wie sie von einem Kontrolleur erwischt und als Schwarzfahrerin bestraft wurde. Es tat mir leid, aber was hätte ich tun können, wer hat schon soviel Kleingeld in der Tasche?

Einige Tage später hatte ich selbst kein passendes Kleingeld für den Automaten. Ich fragte eine Frau, ob sie mir den Geldschein klein machen könne. Die Angesprochene hatte zwar genug Kleingeld für einen Fahrschein, jedoch nicht genug, um mir meinen Geldschein zu wechseln. Kurzerhand drückte sie mir den passenden Betrag für den Fahrschein in die Hand. Ich verstand nicht. Das schenke ich Ihnen, sagte sie. Das kann ich tun.

Danach

Danach eine Plattenbausiedlung, wie ich mich erinnere, die Stadt war Halle. Mehrere Nebensonnen quälten sich durch den hellen Dunst. Es gab eine Grenze der Bewohntheit, dahinter begann die Zone. In der Zone wohnten zwar Menschen, aber alles war verkommen, verfallen, tot. Schilder warnten davor, die Zone zu betreten. Über die Straßen fegte weiße Asche. Ich bewegte mich an der Grenze zur Zone entlang. Vielleicht hundert oder hundertfünfzig Meter hinter der Grenze, in einem der dort einzeln herumstehenden Blocks, sah ich einen Menschen, der offenbar in der Zone geblieben war. Das Fenster war schmal und lang wie eine Schießscharte, es erstreckte sich über die gesamte Fassadenlänge. Es war das einzige Fenster im gesamten Block. Es war der einzige Mensch, den ich sah, der vielleicht letzte Bewohner der Zone. Das Fenster war dicht mit weißer Asche überzogen. Ein Loch war freigeputzt, durch das man, wie durch ein überdimensionales Vergrößerungsglas, verschwommen das Gesicht eines jungen Mannes erkennen konnte. Er war dabei, das Loch erneut freizuscheuern, denn über das Loch hatte sich ein neuer Aschefilm gelegt. Das war kein Mann, das war ein Kind. Jetzt waren die kindlichen Züge klar zu erkennen. Es schaute mich an, wirkte dabei weder überrascht noch neugierig. Ohne lange darüber nachzudenken, hielt ich mir den rechten Zeigefinger waagerecht an die Schläfe, eine geladene Pistole nachahmend. Keine Reaktion. Der Junge schaute nur stumpf, vollkommen regungslos, wie eingefroren. Ich ging weiter, mit großen Schritten immer am Rand der Zonengrenze entlang. In die Zone traute ich mich nicht, außerdem schien mir das Fortkommen dort unmöglich. Ich erinnere mich an schlechte Nachrichten, an Gebrauchsanweisungen für Atemmasken, an Überlebenstrainer. Woher die Nachrichten kamen, weiß ich nicht. Ich stampfte durch die Asche wie durch hohen Pappschnee. Irgendwann wusste ich nicht mehr, ob ich noch auf der Grenze war oder ob ich die Grenze längst passiert hatte und in die Zone eingedrungen war. In dieser Gegend standen keine Warnschilder mehr. Da das Fortkommen immer unmöglicher wurde, ging ich in einen der offenen Aufgänge. Auf den Gängen und Treppen stand die Asche meterhoch. Nur noch die Geländer schauten raus. Ich hustete ununterbrochen. Das letzte, an das ich mich erinnere, ist ein Raum, der bis zur Decke hin mit weißer Asche gefüllt war. Ich ging ein paar Schritte wie durch Watte. Dann ließ ich mich fallen.

Kreisel

Das dürre Mädchen, dessen Alter ich nicht zu schätzen vermag, sitzt auf einem viel zu großen Fahrrad, den Kopf nach unten gebeugt, als der graue Mann aus dem Eingang kommt. Bei seinem Erscheinen nimmt das zartblonde Mädchen nicht nur den Kopf nach oben, sie tritt – gleichsam wie auf Kommando – in die Pedale und beginnt auf dem Hinterhof fortwährend, den älteren Herrn zu umkreisen, der wiederum damit beschäftigt ist, mit einem Tuch seine Brille zu putzen und nebenbei versucht, ihr etwas mitzuteilen. Er steht mit dem Rücken nahe an der Hauswand, was ihr die Durchfahrt dieser Passage erheblich erschwert, sie aber dank wiederholt eleganter Umkurvungen in keiner Weise aus dem Rhythmus bringt und ihn in keiner Weise dazu veranlasst, seine Position zu verändern. Ich höre den Bass, der tief aus seiner Kehle hoch an mein Fenster dringt, sehe ihre, trotz des Kreiselns, ungetrübte Aufmerksamkeit seiner Rede gegenüber, verstehe aber kein Wort und bin mir im Übrigen auch nicht im Klaren darüber, in welchem Verhältnis die beiden zueinander stehen. Erst als das Mädchen bei einer ihrer Umrundungen den grauen Herrn keck in das Hinterteil zwickt (oder löst sie nur eine Fussel von seinem Sakko?) und hiernach beide – sie auf dem Rad, er schreitend – gemeinsam den Hof und damit mein Blickfeld verlassen, wird meine Annahme, dass es sich hier zweifellos um Vater und Tochter handeln muss, in Zweifel gezogen, meine sorgsam verdrängte Einsamkeit indessen unumgänglich ins Bewusstsein.

Nicht mehr als sonst auch

Ich saß die ganze Zeit herum, etwas abseits von den anderen, die sich fröhlich unterhielten, Würste grillten, Bier tranken und Gitarre spielten. Ich lauschte der Gitarre, selbst zu reden hatte ich nichts, auch redete man nicht mit mir. Man fragte mich irgendwann, ob ich mich langweile. Nein, sagte ich nach kurzem Überlegen, obwohl die ehrlichere Antwort gewesen wäre: nicht mehr als sonst auch.

Einatmen, dann ausatmen

Ich schritt durch die Bahnhofshalle und trat in die Septemberluft hinaus. Es muss Vormittag gewesen sein, ganz sicher war es Spätsommer. Die Sonne war nicht zu sehen, doch sie war da. Der Himmel leuchtete hell, wie ein warmes Luftkissen. Daran erinnere ich mich. An diesen hellen bedeckten Himmel und der Ahnung einer Sonne, versteckt im Hochnebel. So oft ich mich später an diesen Tag erinnerte, und das tat ich oft, nie konnte ich sagen, was ich in Weimar eigentlich wollte, ich war nicht einmal sicher, ob es die Stadt Weimar war. Vielleicht ein Vorstellungsgespräch. Vielleicht eine Recherche, für die Lokalzeitung. Es muss in einer Zeit gewesen sein, als mir die Tage noch kurz waren. Nicht wie jetzt, so lang wie ein ganzes Leben. Die Schule muss ich damals gerade beendet haben. Es bringt ja nichts, etwas zu erfinden. Es zählt nur was war. Ich stand vor diesem Provinzbahnhofsgebäude in diesem Provinznest und schaute mich um. Es gab da einen Imbisswagen, so wie man das kennt, ein Wagen mit offener Klappe. Ich bestellte einen Kaffee. Die Frau, an die ich mich nicht erinnere, sagte: Milch, Zucker? Ich sagte: schwarz. War es wirklich so? Es könnte so gewesen sein. Vielleicht auch anders. Ich stellte mich an den einzigen Plastiktisch – einer von diesen weißen Tischen mit integriertem Sonnenschirm – und schlürfte einen Becher Kaffee. Der Sonnenschirm war eingeklappt. Da fuhr ein Bus ab. Zeitung lesende und rauchende Männer, schläfrige Jugendliche, Schwangere und junge Frauen mit Kinderwagen. Nichts besonderes. Jemand rief jemandem etwas hinterher. Sonst war der Bahnhofsvorplatz von einer geradezu unfassbaren Stille. Irgendwo heulte ein Motor auf. Sonst nichts. Warum erzähle ich das alles. Die Hälfte davon habe ich mir mit Sicherheit ausgedacht. Von der andern Hälfte weiß ich nicht, ob sie wirklich so stattgefunden hat oder ob mein Gedächtnis die Bilder hinzugedichtet hat. Das einzige, an das ich mich mit Sicherheit erinnere, ist die Stimmung in mir, das Gefühl in diesem Moment, das ich durch das Herbeirufen dieser Details immer wieder herzustellen suche. Es mag für fünf oder zehn Minuten bestanden haben, doch es wirkt seit mehr als 20 Jahren nach. Nur wegen meiner Stimmung hat gerade diese Szene in meinem Gedächtnis Platz gefunden, während hundert ähnliche in Vergessenheit geraten sind. Es gab da nichts Aufregendes zu sehen, es passierte nichts. Ich trank Kaffee. Ich kann nicht sagen, ob der Kaffee gut war, ob er heiß war oder lau. Es ist nur diese Stimmung geblieben, dieses Gefühl, unterwegs zu sein, ausgesetzt in der Pampa, irgendwo, wo es Kaffee gibt. Es ist das Gefühl, vor einem beliebigen Bahnhof in einer beliebigen Stadt zu stehen und einen Becherkaffee zu schlürfen und dazu eine Zigarette zu rauchen. Wesentlich für das Gefühl war der Bahnhofsvorplatz, die Provinzialität des Ortes, meine Fremdheit. Ich war für einen kurzen Aufenthalt hier gelandet und es gab nichts, das mich stören konnte. Es ist das Gefühl, unterwegs zu sein, auf Wanderschaft, auf Urlaub vom eigenen Leben. Es ist das Gefühl, diesen Ort jederzeit verlassen zu können, nicht hierher zu gehören. Es ist das Gefühl von Zeitlosigkeit, von Ungebundenheit, von Losgelöstsein. Es ist irgendwie so, als würde das Gefühl zu Existieren überdeckt werden von der Flüchtigkeit und Phantomhaftigkeit des Moments. Plötzlich steht man außerhalb von Raum und Zeit und alles Schwere gehört nicht hierher. Es ist eines der schönsten Gefühle. Nur einatmen, dann ausatmen.

Ich wollte kein König sein

Auf dem Weg zu meiner Schwester, die gerade, wenn auch nur knapp, einen Suizidversuch überlebt hatte, machte ich einen Abstecher zu dem alten Wehr, an dem ich so viele Stunden in Trostlosigkeit und Traurigkeit zugebracht hatte. Es war der kälteste Winter seit Jahren und wie damals war die Luft so eisig, dass ich glaubte festzufrieren, wenn ich meine Füße nicht im Sekundentakt bewegte. Das Wehr war in keinem guten Zustand, im Grunde war nur noch eine Wehrruine übrig, ein paar verstreut herumliegende Backsteine und einige morsche Balken. Das Wasser, in das ich hunderte Male im Geiste gesprungen war, und das unter dem ewigen Eis dahinströmte, als wäre es nicht endlich, hatte sich das Terrain um das Wehr zurückerobert, wenn man von „zurückerobern“ sprechen will – erobert sich etwa ein Mensch etwas zurück, wenn er eine Gegend betritt, aus der er vor Jahren geflohen ist? Das Erobern sollte man den Königen überlassen. Mensch bleibt Mensch. Ich hatte es nie lange in einer Stadt ausgehalten. Nach wenigen Jahren, manchmal schon nach Monaten musste ich in eine neuen Gegend ziehen, immer wieder. Jede Stadt hatte ich irgendwann satt. In Wahrheit häufte ich, egal wo ich lebte, soviel Düsteres an, dass jeder Platz auf dieser Erde unerträglich für mich geworden wäre. Es spielte keine Rolle, ob es ein Straßenzug war, ein Feld am Stadtrand oder ein altes Wehr. Es reichte aus, dass ich diesen Ort ein paar Mal in düsterer Stimmung aufgesucht hatte (andere Stimmungen gab es selten), und der Ort selbst wurde zu einem düsteren Ort. Der Gewinn an größeren Städten liegt darin, dass es Myriaden unverbrauchter, noch zu erobernder Orte gibt, eine Kleinstadt hatte ich manchmal innerhalb einer Jahreszeit, ja eines einzigen Winters vollständig kontaminiert, ein Fortleben in der Kleinstadt war dann ausgeschlossen. Stadt bleibt Stadt. Wieder an dem Wehr meiner Kindheit zu stehen, war etwas anderes. Vielleicht lag es daran, dass von dem Wehr kaum etwas übrig war, der Ort hatte sich verändert, ich hatte mich verändert. Hier stand ein anderer Mensch an einem anderen Wehr. Keine Eroberungen mehr. Die Luft war eisig und die Bäume knochig, genau wie in meiner Erinnerung. Alte Bäume verändern sich kaum, die Jahre eines Menschenlebens lassen sie kalt. Baum bleibt Baum. Sie hatte sich einen viel zu dünnen Ast ausgesucht. Ich dachte an meine Schwester, nur wollte ich es besser machen. Ich wollte kein König sein.

© Konrad Leider 2008-2018