Der Handel

In einem hohen Baum lebte ein kleiner weißer Vogel, der blind war, da ein großer Vogel ihm einst die Augen ausgehackt hatte. Eines Tages kam weit unten am Boden ein schwarzer Vogel angehoppelt, der nicht mehr fliegen konnte, da er sich bei einem Scheunenbrand die Flügel versengt hatte. Der schwarze verstümmelte Vogel sagte zu dem weißen blinden Vogel: „Weißer Vogel, ich schlage dir einen Handel vor. Du bekommst meine Augen, dann kannst du wieder sehen. Ich aber bekomme deine Flügel.“

Der weiße Vogel, blind auf seinem hohen Ast hockend, dachte einen Moment nach und weil er schon so lange nichts mehr gesehen hatte und ganz ausgehungert war, seit Wochen kaum einen Wurm geschnappt hatte, schien es ihm, als gäbe es nichts Wertvolleres in der Welt als das Augenlicht. Wozu noch fliegen, dachte er, wenn man doch alles sehen könne, nahes und fernes, schmackhaftes und ungenießbares. So willigte er schnell in den Handel ein, bevor es sich der schwarze Vogel noch anders überlegen würde, so dumm kann doch kein Vogel sein, dachte der weiße Vogel noch voller Entzücken. Der Tausch ging vonstatten, der weiße Vogel bekam das Augenlicht, der schwarze die Flügel. Ebenfalls frohen Mutes, bedankte sich der schwarze Vogel und flog davon. Doch er kam nicht weit. Im ersten Überschwang hatte er noch nicht realisiert, dass er von nun an blind war, und während der ersten unbeholfenen Flügelschläge, mitten in Höhe der neu erlangten Freiheit, knallte er, patsch, gegen einen Strommast, der erst kürzlich dort errichtet worden war. Der schwarze Vogel mit den weißen Flügeln war auf der Stelle tot. Nun könnte die Lehre aus dieser kleinen Fabel lauten: Sehen ist besser als Fliegen, wenn nicht der weiße Vogel sich von seinem hohen Ast auf den erstbesten Wurm, den er im Boden erblickte, gestürzt hätte. Da er noch nicht realisiert hatte, dass er keine Flügel mehr besaß, klatschte er, patsch, auf den Wurm hernieder und war auf der Stelle tot.

Der Wurm aber kroch mühsam unter dem Gedärm hervor und erfreute sich des nun einsetzenden Regens.